Trister Kompromiss. Von Horst Grützke
Für einen engagierten Europäer war es »herzerfrischend« zu hören, wie
die Regierungschefs von Luxemburg und Italien, Jean-Claude Juncker und
Romano Prodi, sich in den Pausen des Brüsseler Reformgipfels vor knapp
zwei Wochen unabhängig voneinander über das Veto der Regierungen in
Warschau und London äußerten: Notfalls müsse man eben ein Europa der
zwei Geschwindigkeiten gestalten. Noch deutlicher äußerte sich die
damalige deutsche Ratspräsidentin, Bundeskanzlerin Angela Merkel: Wenn
Polen nicht wolle, würden eben 26 andere Staaten entscheiden.
Aber leider blieb es bei diesen Äußerungen. Wenig später knickten auch
diese drei wackeren »Musketiere« der EU ein. Heraus kam ein Kompromiss,
der nicht nur subjektiv wehtut, sondern ein wahrer Rückschlag für die
europäische Entwicklung darstellt. Zehn Jahre lang wird die Europäische
Union Gefahr laufen, dass Beschlüsse, die von der Mehrheit angestrebt
werden, durch eine Minderheit verhindert werden.
Dramatisch ist auch, dass sich Großbritannien von der Grundrechtecharta
distanzieren darf, also weiterhin demokratische Rechte und Freiheiten,
soziale Gerechtigkeit und Solidarität nach eigenem Ermessen – sprich
Interessen – auslegen darf und wird.
Als das Schlimmste erweist sich jedoch die Distanzierung der Staats-
und Regierungschefs von einer europäischen Verfassung als
Gesellschaftsvertrag zwischen den EU-Bürgern. Der vorgesehe
»Reformvertrag« ändert daran nichts. Ein solches Abkommen schöpft keine
Unionsbürgerschaft, keine Identifizierung mit dem vereinten Europa.
Eine solche Identifizierung kann nur über eine von den Bürgern der
Europäischen Union bestätigte Verfassung entstehen.
Von jetzt ab gibt es keine Europäische Union mehr, die sich mit einem
Emblem, einer Fahne und einer Hymne identifizieren lässt. Diese Union
wird auch keinen Außenminister haben, über den sie mit einer Stimme
sprechen kann. Die »Neueuropäer« werden weiterhin ihre Treue gegenüber
Washington bekunden können und für sich in Anspruch nehmen, auch zur EU
zu gehören, sich aber von den »Alteuropäern« distanzieren zu dürfen.
Die postkonstitutionelle Krise löste die demokratische Krise nach dem
Nein der Franzosen und Niederländer zum Verfassungsvertrag ab. Statt
vorwärts geht es nun wieder rückwärts. Aber nur, wenn die Mächtigen in
der EU weiterhin tun können, was ihnen beliebt. Noch gibt es in den
meisten EU-Mitgliedstaaten genügend demokratische
Gestaltungsstrukturen, um diesem Treiben gegen den »europäischen Traum«
Widerstand entgegenzusetzen.
Es liegt nahe, dass die europäische Zivilgesellschaft es nicht
hinnehmen wird, in den letzten acht bis zehn Jahren umsonst für eine
menschenwürdige, friedfertige und solidarische Europäische Union mit
demokratischen Gestaltungsregeln gewirkt zu haben. Große Teile dieser
Bewegung haben bei den jüngsten Tagungen der G8, wie erst vor wenigen
Wochen in Heiligendamm, den Mächtigen dieser Welt die Tatsache ins
Bewusstsein gerückt, dass die Völker eine andere Welt haben wollen.
Sicher werden die europäischen Bürger nicht zuschauen, wie nationaler
Egoismus und Größenwahn die Vision Europa zerstören.
Horst Grützke ist Vorsitzender des Europäischen Bürgernetzwerkes "EUROPA JETZT" (www.forum-civil-society.org).
(Quelle: Neues Deutschland, 6. Juli 2007)
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